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Kinder sind anders (Kinder fordern uns heraus)

Waldschmidt, Ingeborg / Eckstein, Percy / Weber, Ulrich / Helming, Helene
Erschienen am 03.03.2009, 23. Druckaufl., 2022
15,00 €
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783608945355
Sprache: Deutsch
Umfang: 304
Format (T/L/B): 20.0 x 12.0 cm

Beschreibung

Autorenportrait

Leseprobe

2. Kapitel Der Erwachsene als Angeklagter Wenn Freud im Zusammenhang mit den tiefsten Ursprüngen der beim Erwachsenen zutage tretenden seelischen Störungen von Unterdrückung spricht, so ist dies an sich bezeichnend genug. Das Kind kann sich nicht so frei entwickeln, wie es für ein im Wachstum begriffenes Lebewesen erforderlich wäre, und zwar deshalb, weil der Erwachsene es unterdrückt. Das Kind steht isoliert in der menschlichen Gesellschaft da. Wer auf das Kind Einfluss ausübt, ist für dieses nicht im abstrakten Sinne ein Vertreter der Welt des Erwachsenen, sondern verkörpert sich sogleich in derjenigen Person, die ihm am nächsten steht. An erster Stelle ist dies die Mutter, dann folgt der Vater, schließlich jeder andere Lehrer und Erzieher. Die Aufgabe, die diesen Erwachsenen von der Gesellschaft zugeteilt wurde, ist gerade das Gegenteil von Unterdrückung: Sie sollen das Kind erziehen und weiterbilden. So erwächst aus der seelischen Tiefenforschung eine Anklage gegen jene, die bisher für die Behüter und Wohltäter des Menschengeschlechtes galten. Sie alle werden plötzlich zu Angeklagten, und da so ziemlich alle Menschen Väter und Mütter sind und die Zahl der Lehrer und Erzieher groß ist, erweitert sich diese Anklage auf den Erwachsenen schlechthin, auf die menschliche Gesellschaft, die für die Kinder verantwortlich ist. Es ist etwas Apokalyptisches an dieser überraschenden Anklage, so als riefe die geheimnisvolle und schreckliche Stimme des Jüngsten Gerichtes: "Was habt ihr mit den euch anvertrauten Kindern getan?" Man ist geneigt, sich zu verteidigen, zu protestieren: "Wir haben unser Möglichstes getan! Wir lieben die Kinder, wir haben für ihre Pflege jedes Opfer gebracht!" In Wirklichkeit aber stehen zwei einander widersprechende Auffassungen da, von denen die eine bewusst ist, die andere jedoch aus dem Unterbewussten emporsteigt. Wir kennen die Argumente, mit denen der Erwachsene sich verteidigt; sie sind uralt, tief eingewurzelt und daher uninteressant. Viel interessanter ist die Anklage, besser gesagt, der Angeklagte selbst - jener Erwachsene, der sich eifrig zu schaffen macht, um Pflege und Erziehung der Kinder zu verbessern, und sich dabei immer tiefer in einem Irrgarten auswegloser Probleme verliert. Dies darum, weil er den Irrtum nicht kennt, den er in sich selbst trägt. Wer für das Kind eintritt, muss dauernd diese anklagende Haltung gegen den Erwachsenen einnehmen und darf hierbei weder Nachsicht walten lassen noch Ausnahmen machen. Und plötzlich wird diese Anklage ein Mittelpunkt von außerordentlichem Interesse. Sie richtet sich nämlich nicht gegen bewusste Unterlassungsgründe, die eine demütigende Unzulänglichkeit der Erzieher verraten würden, sondern gegen unbewusste Irrtümer. Damit dient sie einer erweiterten Selbsterkenntnis und macht den Menschen reicher, wie denn alles das Wesen des Menschen bereichert, was zu irgendwelchen bis dahin unbekannt gebliebenen Entdeckungen im seelischen Bereich führt. Zu allen Zeiten hat deshalb die Menschheit ihren Fehlern gegenüber eine zwiespältige Haltung eingenommen. Jedermann ärgert sich über seine bewussten Fehler, während die unbewussten ihn anziehen und faszinieren. Unbewusster Irrtum enthält einen Schritt zur Vervollkommnung über die bis dahin bekannten Grenzen hinaus, und seine Erkenntnis erhebt auf ein höheres Niveau. Der Ritter des Mittelalters war stets bereit, jedes kleinste Wort der Anklage, das sein bewusstes Handeln betraf, zum Anlass für einen Zweikampf zu machen; gleichzeitig aber warf er sich demütig vor dem Altar nieder und erklärte: "Ich bin ein Sünder und bekenne vor aller Welt meine Schuld." Die biblische Geschichte gibt interessante Beispiele für dieses Verhalten der Menschen. Was veranlasste das Volk von Ninive, sich um Jonas zu scharen, was rief die Begeisterung hervor, mit der alle, vom König bis zum Bettler, dem Propheten nachfolgten? Jonas schalt sie verhärtete Sünder und verkündigte ihnen, Ninive werde untergehen, wenn sie

Schlagzeile

'Die große Pädagogin, der ein Nobelpreis für Erziehung gebührt hätte' Deutsche Rundschau