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Politisierung oder Verrechtlichung?

Der Streit um die Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland (1921-1958)

Erschienen am 07.07.2016
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593506180
Sprache: Deutsch
Umfang: 267
Format (T/L/B): 21.0 x 14.0 cm

Beschreibung

Befördern Verfassungsgerichte eine Verrechtlichung der Politik? Oder leisten sie einer Politisierung des Rechts Vorschub? Solche Kontroversen begleiteten auch das Bundesverfassungsgericht, seitdem es 1951 seine Tätigkeit aufgenommen hatte. Das Buch zeigt, wie das Gericht seinen Anspruch auf Deutungshoheit über das Grundgesetz in der Auseinandersetzung mit konkurrierenden Akteuren betonte.

Autorenportrait

Hauke-Hendrik Kutscher, Dr. phil., war wiss. Mitarbeiter an der Universität Bielefeld.

Rezension

»Insgesamt handelt es sich bei dem Buch um eine methodisch klare und argumentativ überzeugende Analyse des Streits um die Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland zwischen Weimar und Bonn. […] Zu einer dringend notwendigen historisierenden Betrachtung der Verfassungsgerichtsbarkeit und ihrer Rechtsprechung liefert diese Studie zweifellos einen wichtigen Beitrag.« Christian Wöhst, H-Soz-Kult, 01.06.2017

Leseprobe

I. Einleitung 1. Gegenstand und Fragestellung Im modernen Verfassungsstaat steht das Recht in einem besonderen Verhältnis zur Politik. Einerseits sind Rechtsnormen Produkte des politischen Prozesses. Es sind politische Akteure und politische Verfahrensweisen, die über den Inhalt des Rechts entscheiden. Politik kann sich des Rechts als Instrument bedienen, um ihre Zwecke zu verfolgen. Andererseits wird die Politik ihrerseits durch das Recht bestimmt. Einmal gesetzte Rechtsnormen verlangen Beachtung auch von politischen Akteuren, sie wirken also auf diese zurück. Recht kann sich schließlich auch unmittelbar an die Politik richten. In diesem Fall tritt es in Form von Normen auf, die den politischen Prozess selbst formal und inhaltlich zu regeln beanspruchen. Eine Form, die solche Rechtsnormen bevorzugt angenommen haben, ist die moderne (schriftlich fixierte) Verfassung. In modernen, demokratischen Staaten hat sich dabei ein Verständnis entwickelt, nach dem Verfassungen die grundlegenden und wichtigsten Rechtsnormen für die Konstituierung des Staates beinhalten. Verfassungen heben sich von allen weiteren Rechtsnormen ab und stehen zumindest im Bereich des positiven, gesetzten Rechts an der Spitze einer Normenhierarchie. Das bedeutet, dass unterverfassungsrechtliche Normen, wie einfache Gesetze oder Rechtsverordnungen, nicht im Widerspruch zum Verfassungsrecht stehen dürfen. Insofern kommt dem Verfassungsrecht eine größere Bedeutung und höhere Verbindlichkeit zu als dem sonstigen positiven Recht. Die herausgehobene Stellung des Verfassungsrechts zeigt sich aber noch in einem weiteren Sinne. Auch das Verfassungsrecht verdankt sich politischer Setzung und ist durch politische Entscheidung grundsätzlich wieder änderbar. Im Falle einer Verfassungsänderung gelten dabei jedoch üblicherweise erhöhte Anforderungen an die politischen Akteure. Beispielsweise müssen in den zur Entscheidung berufenen parlamentarischen Körperschaften in der Abstimmung über eine Verfassungsänderung größere Mehrheiten erreicht werden als im Falle der Änderung einfachen Gesetzesrechts. Damit ist das Verfassungsrecht dem politischen Prozess in geringerem Maße verfügbar als unterverfassungsrechtliche Normen. So werden gerade die formalen und inhaltlichen Vorgaben des Verfassungsrechts an die Politik auf größere Dauer gestellt und gegenüber wechselnden Konjunkturen des politischen Prozesses stabilisiert. Betrachtet man das Politische nicht als einen mehr oder weniger klar umrissenen und wesenhaft-natürlich bestimmten Zusammenhang von Fragen, Akteuren oder Verfahrensweisen, sondern versteht Politisches als einen historisch wandelbaren Kommunikationsraum, dessen Grenzen, Zugangsberechtigungen und internen Regeln stets neu ausgehandelt werden, so lässt sich für das Recht insgesamt und für das Verfassungsrecht im Besonderen eine spezifische Funktion annehmen. Als These lässt sich formulieren, dass das (Verfassungs-)Recht entpolitisierend wirkt. Denn dadurch, dass politische Programme in rechtliche Normen überführt werden, wird die politische Kommunikation zwar nicht notwendig beendet, aber doch in charakteristischer Weise begrenzt. Solange die entsprechenden Rechtsnormen gelten, ist der Verbindlichkeitsanspruch, den politische Kommunikation erreichen kann, dem Anspruch der Rechtsnormen unterlegen. Der entpolitisierende Charakter des (Verfassungs-)Rechts äußert sich darin, dass bestimmte fundamentale Grundsätze des politischen Gemeinwesens tendenziell außer Streit gestellt werden. Zwar kann im Prinzip jede Sachfrage jederzeit zum Gegenstand politischer Aushandlung und politischen Streits werden, auch dann, wenn sie bereits in der Verfassung entschieden worden ist. Aber die politische Kommunikation muss sich dann dem grundsätzlich überlegenen Verbindlichkeitsanspruch der Verfassung beugen oder sie muss den Weg der Verfassungsänderung beschreiten, um eine neue Verbindlichkeit zu setzen. Umgekehrt ist plausibel, dass die angenommene entpolitisierende Funktion der Verfassung im demokratischen Rechtsstaat sich umso eher realisiert, je mehr die Verfassung gewissermaßen bescheiden ist und sich auf die Normierung lediglich solcher fundamentaler Grundsätze beschränkt, über die unter den Rechtsunterworfenen weitgehende Einigkeit hergestellt werden kann. Ziel einer solchen Verfassung wäre es, den demokratischen und pluralistischen politischen Prozess zu ermöglichen, nicht, ihn zu ersticken. Diese Ermöglichungsfunktion betrifft ebenfalls den Inhalt der Verfassung. Da sie Normen enthält, die den politischen Prozess in einer bestimmten Weise, formal und inhaltlich, strukturieren wollen, lässt sich als eine weitere These formulieren: Verfassungsrecht wirkt auch politisierend. Es enthält Vorgaben, die politische Akteure in Rechnung stellen müssen, und es hält Ressourcen bereit, die diese Akteure nutzen können, wenn sie bestimmte Sachverhalte politisieren wollen. Streit darum, welchen Inhalt die Verfassung haben sollte, kann es stets geben. Es ist aber auch möglich, dass darüber gestritten wird, was aktuell Inhalt der Verfassung ist. Dann geht es darum, welche politischen Entscheidungen bereits zu Verfassungsrecht geronnen sind und deshalb Verbindlichkeit beanspruchen können. Die Möglichkeit eines solchen Streits ist gegeben, weil Rechtsnormen stets in mehr oder weniger großem Umfang interpretationsbedürftig sind. Da es sich bei verfassungsrechtlichen Normen typischerweise um Regelungen handelt, die grundlegende inhaltliche Prinzipien, Verfahrensweisen und die Kompetenzverteilung eines politischen Gemeinwesens betreffen, kann der Streit um sie rasch zu einer hochpolitischen Angelegenheit werden. In beiden Fällen kommt es zu einer Politisierung des Verfassungsrechts. Im ersten Fall, dem Streit darüber, was Inhalt der Verfassung sein soll, ist das Verfassungsrecht ein Medium, in dem der Streit um einen politischen Grundkonsens ausgetragen wird. Ein solcher Streit ist in einer demokratischen Republik der typische Fall einer hochpolitischen Auseinandersetzung zwischen politischen Akteuren - sein Ausgang hängt wesentlich von demokratischen Verfahrensweisen, einer gegebenen Machtverteilung und dem politischen Kalkül der Akteure ab. Er lässt sich nicht ohne demokratischen Substanzverlust anderen als den legitimierten politischen Akteuren zur Entscheidung überantworten. Dies gilt mindestens dann, wenn die Verfassung tatsächlich als die Spitze der Normenhierarchie angesehen wird und ihr Ursprung allein in der Setzung durch einen demokratisch legitimierten Verfassungsgeber liegt. Das letzte Wort kommt dann dem Verfassungsgeber bzw. dem verfassungsändernden Gesetzgeber zu. Auch Streitigkeiten darüber, was aktuell Inhalt der Verfassung ist, können politischen Instanzen zur Entscheidung überlassen werden. Ohnehin lässt sich der Streit zwischen politischen Akteuren um die vorzugswürdigen politischen Programme und parlamentarischen Gesetzgebungsvorhaben zu einem Gutteil auch als die Konkurrenz verschiedener Verfassungsinterpretationen begreifen. Wenn die Verfassung sich auf die Regelung nur der grundlegenden Prinzipien beschränken muss, so sind die politischen Akteure, insbesondere der parlamentarische Gesetzgeber, aufgerufen, die Verfassung durch die Setzung einfachen Rechts zu konkretisieren. In der Regel gibt es mehrere unterschiedliche Möglichkeiten, verfassungsrechtliche Normen gesetzgeberisch zu konkretisieren bzw. umzusetzen. Dass bei der Entscheidung zwischen verschiedenen gesetzgeberischen Programmen ein mehr oder weniger klares Verfassungsverständnis eine wichtige Rolle spielt, ist sehr wahrscheinlich. Insofern wird auch politisch um die jeweils als richtig erkannte Interpretation der Verfassung gestritten. Es gibt keinen zwingenden Grund, nach dem ein demokratisches Gemeinwesen es nicht dabei belassen könnte, das heißt den Streit um den Inhalt und die richtige Interpretation ihrer Verfassung allein durch politische Instanzen auszutragen. Ein Verfassungsgericht ist also kein notwendiges E...

Inhalt

Inhalt I. Einleitung 9 1. Gegenstand und Fragestellung 9 2. Methodisches Vorgehen 18 3. Forschungsstand, Literatur und Quellen 23 II. Begriff und historische Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit 33 III. Das Politische als Problem: Die Debatte in der Weimarer Republik 40 1. Die Debatte um das richterliche Prüfungsrecht auf dem Deutschen Juristentag 1921-1926 44 2. Die Debatte in der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 60 2.1 Die Staatsrechtslehrertagungen von 1922, 1925 und 1926 60 2.2 Die Auseinandersetzung zwischen Triepel und Kelsen über "Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit" 1928 70 3. Zwischenfazit 85 IV. Das Politische als Aufgabe: Die Verfassungsgerichtsbarkeit bei der Entstehung des Grundgesetzes 91 1. Die Vorarbeiten zum Grundgesetz auf dem Verfassungskonvent von Herrenchiemsee 94 2. Die Entstehung des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat 97 3. Funktion und Status des Bundesverfassungsgerichts 100 4. Selbständige Verfassungsgerichtsbarkeit oder Verfassungsgerichtsbarkeit als Teil des Obersten Bundesgerichts? 103 5. Wahl und Qualifikation der Verfassungsrichter 109 6. Die Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts 116 6.1 Der Organstreit 116 6.2 Föderative Streitigkeiten 121 6.3 Die Normenkontrolle 122 6.4 Die Verfassungsbeschwerde 125 6.5 Weitere Kompetenzen 132 7. Zwischenfazit 133 V. Politik oder Recht: Die Entstehung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes 137 1. Die Stellung des Bundesverfassungsgerichts als ›Verfassungsorgan‹ 140 2. Die Zusammensetzung des Spruchkörpers 143 3. Die vorgeschlagene Einführung eines Bundesanwalts 147 4. Die Wahl des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts 148 5. Die Einführung der Verfassungsbeschwerde 150 6. Zwischenfazit 156 VI. Das Politische als Grenze: Reaktionen der Staatsrechtslehre auf Grundgesetz und Verfassungsgerichtsbarkeit 159 1. Das Grundgesetz und das Politische: Fesseln oder Grenzen? 161 2. Die "Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit": Die ›Natur der Politik‹ und das ›Wesen der Justiz‹ 167 3. Zwischenfazit 180 VII. Politik und Recht: Wer ist Hüter der Verfassung? 184 1. Richterwahl und Eröffnung des Bundesverfassungsgerichts 185 2. Der Streit um den Status des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsgefüge des Grundgesetzes 194 3. Der Streit um die Wiederbewaffnung 203 4. Das Beamtenurteil (1953) 212 5. Rechtsprechung als Medium der Verrechtlichung des Politischen: Die Konstituierung der ›objektiven Wertordnung‹ des Grundgesetzes 222 5.1 Die wehrhafte Demokratie: Die Parteiverbote von SRP (1952) und KPD (1956) 223 5.2Das Elfes-Urteil (1957) 226 5.3 Das Lüth-Urteil (1958) 229 6. Zwischenfazit 234 VIII. Fazit 237 IX. Quellen und Literatur 246 1. Abkürzungen 246 2. Rechtsprechung 247 3. Archivalien 248 4. Gedruckte Quellen und Literatur 248 Dank 267