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Der Streit um das VW-Gesetz

Wie Europäische Kommission und Europäischer Gerichtshof die Unternehmenskontrolle liberalisieren

Erschienen am 07.11.2013
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593399959
Sprache: Deutsch
Umfang: 224
Format (T/L/B): 21.0 x 14.0 cm

Beschreibung

Eine Vereinheitlichung der Unternehmenskontrollsysteme in der EU ist bis heute an den gegensätzlichen Interessen der Mitgliedstaaten gescheitert. Inzwischen haben die Europäische Kommission und der Europäische Gerichtshof begonnen, eigenständig marktliberale Vorgaben zur Regulierung der Unternehmenskontrolle durchzusetzen. Benjamin Werner rekonstruiert diese Entwicklung anhand der Auseinandersetzungen um "Goldene Aktien" und das deutsche VWGesetz. Dabei deckt er die politischen Bedingungen auf, die es den supranationalen Organen ermöglichen, bedeutende Integrationsfortschritte gegen den Willen der Mitgliedstaaten zu erzielen.

Autorenportrait

Benjamin Werner, Dr. rer. pol., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich 597 "Staatlichkeit im Wandel" an der Universität Bremen.

Rezension

Schriften aus dem Max- Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln

Leseprobe

Das 1960 erlassene "Gesetz über die Überführung der Anteilsrechte an der Volkswagen GmbH in private Hand" - kurz VW-Gesetz - regelte die Machtverhältnisse beim Volkswagen-Konzern (VW), Europas größtem Automobilhersteller und einem der bedeutendsten Unternehmen in Deutschland. Besonderes Merkmal des Gesetzes war, dass den Arbeitnehmern sowie dem Land Niedersachsen, Heimat der Wolfsburger Konzernzentrale und Großaktionär des Unternehmens, erweiterte Mitsprache- und sogar Vetomöglichkeiten bei wesentlichen Unternehmensentscheidungen eingeräumt wurden. Wirtschaftsliberale haben diese Regelung deshalb immer wieder als Ausdruck von "Staatssozialismus" gebrandmarkt. Andere hingegen, wozu vor allem niedersächsische Politiker, VW-Betriebsrat und Gewerkschaftsfunktionäre gehören, verteidigten das Gesetz stets als "Symbol" der "deutschen Variante des sozial gebändigten Kapitalismus". Mit Erfolg: Bis ins neue Jahrtausend hinein konnten sie verhindern, dass das Gesetz entscheidend verändert oder abgeschafft wurde. Dies änderte sich jedoch, als die Europäische Kommission 2001 begann, juristisch gegen das Gesetz vorzugehen. Die Brüsseler Behörde betrachtete die deutsche Regelung als Verstoß gegen die europäische Kapitalverkehrsfreiheit, da zentrale Bestimmungen des Gesetzes den Einfluss privater Aktionäre auf die Kontrolle des Unternehmens beschränken und somit die Attraktivität einer Investition in das Unternehmen verringern würden. In Deutschland sorgte dieses Vorgehen für erheblichen Unmut, und es entstand eine breite politische Koalition, die auf den Erhalt des Gesetzes drängte. Doch die Kommission beharrte auf ihrem Standpunkt, und so wurde der Streit schließlich an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) verwiesen. Dieser gab der Kommission im Oktober 2007 weitgehend recht und verwarf zentrale Bestimmungen des VW-Gesetzes. Nun, so frohlockten manche, könne VW endlich zu einem "normalen Unternehmen" werden, das nicht länger vor "dem harten Wind des Wettbewerbs" geschützt werde. Für andere hingegen war die EuGH-Entscheidung "ein Rückschlag für die aufkeimenden Hoffnungen der Menschen auf eine soziale Ausrichtung der Europäischen Union". Der Streit zwischen Kommission und Deutschland um das VW-Gesetz ist kein Einzelfall, sondern vielmehr eine einzelne, wenngleich besonders wichtige Etappe eines größeren Konflikts zwischen der Brüsseler Behörde und den Mitgliedstaaten um die Rolle des Staates bei der Kontrolle bedeutender Unternehmen. Bereits seit Ende der 1990er-Jahre hatte die Kommission damit begonnen, systematisch gegen sogenannte Goldene Aktien vorzugehen. Dieser Begriff bezeichnet Sonderrechte, die dem Staat spezielle Kontrollbefugnisse in einzelnen Unternehmen einräumen. In der Europäischen Union (EU) wurden diese Regelungen hauptsächlich im Zuge der Privatisierungen ehemaliger Staatsbetriebe eingeführt, insbesondere in den späten 1980er- und 1990er-Jahren. Viele Mitgliedstaaten griffen auf dieses Instrument zurück, um auch über die Privatisierung hinaus Einfluss auf die Unternehmen, die oftmals von großer ökonomischer oder politischer Bedeutung für die jeweiligen Volkswirtschaften waren, ausüben zu können. In manchen Fällen waren die Privatisierungen gar erst durch den Erhalt solcher Sonderrechte innenpolitisch durchsetzbar. Die Kommission sah in diesem Instrument jedoch eine unzulässige Beschränkung des freien Kapitalverkehrs und leitete gegen zahlreiche Mitgliedstaaten Vertragsverletzungsverfahren ein, wovon sich eines auch gegen das VW-Gesetz richtete. Da die von den Verfahren betroffenen Mitgliedstaaten die Rechtsauffassung der Kommission allerdings nicht durch geltendes EU-Recht gedeckt sahen, musste in beinahe allen Fällen der EuGH über die Rechtmäßigkeit von Goldenen Aktien und VW-Gesetz befinden. In seinen Urteilen bestätigte der Gerichtshof schließlich fast gänzlich die Position der Kommission und schränkte damit den Gebrauch solcher Sonderrechtsbestimmungen durch die Mitgliedstaaten drastisch ein. Das juristische Vorgehen der Kommission sowie die Bestätigung der von ihr vertretenen Rechtsauffassung durch den EuGH sind äußerst bemerkenswert. Denn die supranationalen Organe griffen hiermit in ein Politikfeld ein, das sich die Mitgliedstaaten bislang zur eigenständigen Regelung vorbehalten hatten. Die Auseinandersetzungen um Goldene Aktien und VW-Gesetz drehten sich nämlich wesentlich um die Frage, inwieweit die Mitgliedstaaten dazu berechtigt sind, die interne Organisationsstruktur eines Unternehmens nach eigenen Vorstellungen rechtlich zu gestalten. Diese Frage bildet den Kern des Politikfelds der Unternehmenskontrolle (Corporate Governance). Darunter werden all jene gesetzlichen Regeln gefasst, die die formalen Entscheidungsstrukturen in einem Unternehmen bestimmen. Sie legen fest, wer darüber entscheiden darf, welche Ziele ein Unternehmen wie verfolgt. Ihre Ausgestaltung ist von erheblicher politischer Bedeutung, da sie die Funktionsweise der zentralen Organisationen der Wirtschaft maßgeblich bestimmen und damit Einfluss auf Beschäftigung und Wohlstand haben. Weil die Vorstellungen der einzelnen Mitgliedstaaten über die "richtige" Gestaltung dieser Regeln aber erheblich voneinander abweichen, ist es bis heute nicht gelungen, einheitliche Vorgaben für diesen Politikbereich im europäischen Recht zu verankern. Zu groß waren die Widerstände der Mitgliedstaaten gegen das Abweichen oder gar Aufgeben zentraler Merkmale ihrer bestehenden Unternehmenskontrollsysteme. Wenn überhaupt europäische Regelungen auf diesem Gebiet verabschiedet werden konnten, dann berührten sie entweder keine wesentlichen Fragen oder aber sie blieben in den entscheidenden Punkten unverbindlich. Die Mitgliedstaaten setzten folglich bewusst auf autonomieschonende Lösungen, die ihnen auch weiterhin die eigenständige Gestaltung ihrer Unternehmenskontrollsysteme garantierte. Trotz dieses Mangels an eindeutigen Vorgaben zur Regulierung der Unternehmenskontrolle verbot der EuGH den Einsatz von Goldenen Aktien und VW-Gesetz weitgehend. Zugleich prägten die Europa-Richter mit ihren Urteilen eine weitreichende Interpretation der Kapitalverkehrsfreiheit: Alle nationalen Bestimmungen, die den Erwerb von Aktien potenziell weniger attraktiv machen könnten, sind fortan als Beschränkung des freien Kapitalverkehrs zu werten und bedürfen der Rechtfertigung durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses. Als attraktivitätsmindernd stufte der EuGH insbesondere solche Regelungen ein, die die Kontrollbefugnisse von Aktionären im Unternehmen beschneiden. Hierdurch könnten, so die Richter, Anleger von einer Unternehmensbeteiligung abgehalten werden. Rechtsexperten haben darauf hingewiesen, dass sich auf Grundlage dieser Judikatur zukünftig noch viele weitere nationale Regelungen, die in irgendeiner Weise die Kontrollrechte von Aktionären beschneiden, als europarechtswidrig einstufen ließen (Armour/Ringe 2011; Demirakou 2011; Gerner-Beuerle 2012; Grundmann/Möslein 2003; Roth 2008).

Inhalt

Inhalt Vorwort 9 Kapitel 1 Einleitung 11 1.1 Methodik und Datengrundlage der Untersuchung 19 1.2 Aufbau der Arbeit 21 Kapitel 2 Europäische Integration und Unternehmenskontrolle 25 2.1 Was ist Unternehmenskontrolle? 25 2.2 Das Scheitern der politischen Integration 30 2.3 Der Erfolg der judikativen Integration 43 Kapitel 3 Integration durch Recht: Forschungsstand und Forschungsbedarf 49 3.1 Das Phänomen Integration durch Recht 49 3.2 Politikwissenschaftliche Erklärungen 55 3.3 Überzeugende Antworten? 62 Kapitel 4 Die Kapitalverkehrsfreiheit: Vertragliche Grundlage für die judikative Integration im Bereich Unternehmenskontrolle 67 4.1 Der Vertrag von Rom: Der Kapitalverkehr als Domäne des politischen Integrationsmodus 67 4.2 Die Zurückhaltung des EuGH 71 4.3 Die Vertragsrevision von Maastricht als Aktivierung der judikativen Integration 73 4.4 Fazit 78 Kapitel 5 Der Kampf um Goldene Aktien: Die Verwandlung der Kapitalverkehrsfreiheit in ein Instrument zur Liberalisierung der Unternehmenskontrolle 81 5.1 Was sind Goldene Aktien? 81 5.2 Die Auseinandersetzung zwischen Kommission und Mitgliedstaaten 85 5.3 Die Urteile des EuGH 106 5.4 Fazit 123 Kapitel 6 Der Streit um das VW-Gesetz 127 6.1 Die Bedeutung des VW-Gesetzes 128 6.2 Die Entstehung des EuGH-Urteils 137 6.3 Der Verlauf der Auseinandersetzung nach dem Urteil 161 6.4 Fazit 169 Kapitel 7 Die Gründe für den Erfolg der judikativen Integration im Bereich Unternehmenskontrolle 173 7.1 Die aktivierende Rolle der Mitgliedstaaten 174 7.2 Die hohe Durchsetzungsfähigkeit der Kommission 175 7.3 Die Beharrlichkeit des EuGH 180 7.4 Die mangelnde Bereitschaft zum Widerstand bei den nationalen Verteidigern: Drei Mechanismen 181 7.5 Fazit: Die Stärke der Integration durch Recht 189 Kapitel 8 Schlussbetrachtungen 191 8.1 Die Zukunft der Unternehmenskontrolle in der EU 191 8.2 Die judikative Integration als Instrument zur Realisierung eines liberalen (Alb-)Traums 197 Interviews 209 Literatur 211

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Schriften aus dem Max- Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln